Leseseite
JUBILÄUM 30 JAHRE PUERTO ALLEGRE e.V.
Dienstag, 24. März 2020, 18:00 Uhr
MIKADO, Franz-Mehring-Straße 20, 15230 Frankfurt (Oder)
NIKA TURBINA: NICHT ICH SCHREIB MEIN GEDICHT?
Diese Gedichte umgibt ein Geheimnis, das vielleicht nie restlos gelüftet werden wird. Ein kleines Mädchen ist ihre Autorin, im Alter von sieben, acht, neun Jahren? Die Zweifler treten auf den Plan!
Jewgeni Jewtuschenko bittet Nika bei einem ersten Treffen in Pasternaks Haus in Peredelkino, ihm einige ihrer Gedichte vorzutragen. Sogleich ist er sich sicher: Derart können allein Dichter sprechen.
Die Zweifel und Vermutungen nehmen mit den Jahren nicht ab, doch sie widersprechen einander in manchen Details. 2018 erscheint Aleksandr Ratners Buch „Die Geheimnisse des Lebens der Nika Turbina“, das die Vermutung nahelegt, daß Nika nie einen Vers selber geschrieben hat. Einen endgültigen Beweis aber muß es schuldig bleiben.
Die Gedichte hingegen gibt es, und beeindruckend sind sie unabhängig davon, ob sie ein Kind oder ein Erwachsener geschrieben haben mag. Verbunden bleiben werden sie mit dem Namen Nika Turbina, so wie die 154 Sonette mit dem Namen William Shakespeare, auch wenn sie der Mann aus Stratford-upon-Avon womöglich nicht verfaßt hat.
Spät erst entdecke ich diese Verse, und beginne sie mit Hilfe meiner Gefährtin, der Slawistin Kerstin Hommel, ins Deutsche zu übertragen. So heißt es bei Nika: „Ganz ohne Helfer ist das Ziel nicht zu erreichen.“
Ich wartete auf den Ton. Er kam. Und ich war erfüllt von der Energie eines gewaltigen Augenblicks, unverständlich wie die Geburt eines Menschen. (N.T.)
Eine Nachdichtung ist niemals das Original. Und doch hoffe ich, zumindest den Ton von Nika getroffen zu haben, dem vielleicht letzten Wunderkind der Sowjetunion.
Frank Viehweg
Das Buch ist erschienen im NORA-Verlag.
AUS DER WELT - DAS NEUE ALBUM 2013 bei Raumer Records
IN DIE WELT GESUNGEN
„Autoren meines Geistes sind auch nicht willkommen in diesem Land“, wurde der kürzlich verstorbene Schriftsteller Erik Neutsch in einigen Nachrufen zitiert. Der Satz klingt mürrisch. Aber für den Schreibenden wie für den Singenden ist er eine gute Imprägnierung. Er schützt gegen Korruption - eine Korruption, die nicht in erster Linie mit Geld zu tun hat und die gerade deshalb in der Kunst noch viel verbreiteter ist als in der Politik oder auf anderen Märkten. „Wenn ich mit den Wölfen heulen sollte, träf´ ich nicht den Ton“, gesteht der Berliner Liederdichter Frank Viehweg schon im ersten Lied seines mittlerweile neunten Albums. Solche Unbestechlichkeit schützt freilich nicht vor Resignation, schon gar nicht vor der Angst: Themen, an denen er sich abarbeitet in aller Freundlichkeit und frei von Larmoyanz - wohl wissend, dass er dabei auf Granit stößt. Ein Millimeter Abrieb in hundert Jahren - so viel Zeit hat kaum ein Mensch. So viel Zeit hat ein Mensch, der Hoffnung setzt in seinesgleichen, allemal. Der Titel „Aus der Welt“, den Viehweg seinem aktuellen Album gab, trägt die gleiche Ambivalenz in sich. Und schnell wird hörbar, dass hier nicht die Absage an das irdische Jammertal erklingt, nicht der Rückzug in die Beschaulichkeit der Tatenlosen. Aus der Welt holt Viehweg sich, was er zum Leben braucht, und reicht es weiter an jene, die es genauso nötig haben. Aus der Welt holt er sich, was hier knapp geworden ist: die Beweglichkeit des Denkens über das in Agonie gefallene System hinaus, die Lust an der Veränderung, auch der eigenen. In den zurückliegenden Jahren war das Frank Viehwegs wichtigste Beschäftigung. Aus der Welt hat er seine Wahlverwandten nach Deutschland geholt: den Russen Juri Schewtschuk und den Tschechen Jaromir Nohavica, Shakespeare und Puschkin und einige Dutzend andere aus unterschiedlichen Zonen und Zeiten. Viehweg hat seine Sprache an ihnen geschärft, hat Heiterkeit und Betrübnis bei ihnen gefunden, Sanftmut und Verletztheit neuentdeckt, auch und gerade, wenn sich ihm selbst die Verse zu verweigern drohten. Aus der Welt kommt die Botschaft, die erwartet wird in der Stille. Das war schon damals, ist nun wieder so. Viehweg leistet sich den Luxus, die Frage nach gut oder schlecht immer wieder zu stellen, wo einfache Feindbilder nicht nur Kriege rechtfertigen sollen, sondern auch die Abschaffung der Bürgerrechte, die Einschüchterung durch flächendeckende Überwachung, den Betrug des Volkes im Namen des Volkes. Viehweg leistet sich den Luxus, in einer Atmosphäre der Gleichgültigkeit und der Stagnation den „kleinen Mut“ zu preisen, mit dem ein Kind in die Welt gesetzt wird, die Auflösung eines Bombodroms zu feiern, dass „die Heide wackelt“ und die Menschenrettungsschirme der Berliner Aktionskünstlerin Ute Donner zu besingen als eine nicht nur imaginäre Rettung vor den Anfechtungen und Zumutungen, zwischen denen Zukunft zermahlen wird. Nicht die Vergangenheit, derer sich der Dichter zu versichern sucht in alten Liedern und Filmen, und die sich nur noch mitteilen, aber nicht mehr teilen lassen mit der jugendlichen Geliebten. Trotzdem gibt es zuweilen bei aller Hiesigkeit auch eine Ausgegrenztheit und Selbstausgrenzung dessen, der ein „Seltener Vogel“ bleibt, der ein Zuhause besingt, dass er gar nicht tauschen wollte und dennoch verlor. Deutlicher als bei vergangenen Produktionen wird hörbar, wie bedrohlich die Verlassenheit werden kann, wenn sie plötzlich zwei Menschen betrifft, wenn einer zurückbleibt mit seiner Liebe und sich der andere lieblos entfernt. Nicht auf die Knie zu fallen vor den Demokratoren: dabei hilft die Tapferkeit dem Verstand und die Erfahrung dem Stolz. Aber was bewahrt davor, in die Knie zu gehen, wenn das wichtigste Signal plötzlich fehlt und das nötigste Echo? Viehweg, von Puschkin sekundiert, ist entschlossen, an seiner Liebe festzuhalten, um nicht die Balance zu verlieren, auch wenn es schwer ist, „ohne dich ein Lied zu schreiben“, auch wenn die Geliebte nur ein Bild ist, dass sich ein Liebender gemacht hat von ihr. Neben Alexander S. Puschkin kommen auf dem neuen Album auch Johan Mejer aus den Niederlanden, Maik Altenburg und Henry-Martin Klemt, beide aus Frankfurt (Oder), zu Wort. Es sind die fremden eigenen Stimmen auf dieser Platte. „Ich kann nur Lieder singen, die auch meine Lieder sind“, ist eine längst zum Credo gewachsene Erfahrung des Liederdichters. Dabei ist die Vertonung der „Grauen“ von Maik Altenburg zu einer Perle der aktuellen Produktion geworden. Vielleicht gerade, weil die Geschichte der morgens fortgehenden und abends heimkehrenden Katze als einzigem Begleiter den Verlust und die Einsamkeit, aber auch die Furcht vor den eigenen Gefühlen so heil- und schnörkellos beschreibt, wie sie jenseits der romantischen Verklärung sind. Auch wenn Viehwegs Lieder auf der Straße liegen, ist der Versuch müßig, mit ihnen die Alltagsgeräusche übertönen zu wollen. Zimmerlautstärke ist angesagt. Manchmal ist das schade. Doch ihre Dramaturgie bezieht die Platte aus einem künstlerischen Konzept, das zugleich ein Lebenskonzept ist und das sich bei jedem Hören ein wenig klarer erschließt - getragen von den ebenso zurückhaltenden wie nuancenreichen Arrangements, die Viehweg in bewährter Zusammenarbeit mit Jürgen Ehle (Gitarre, Bass, Mundharmonika), Dirk Müller (Akkordeon), Matthias Nitsche (Percussion, Gesang, Charango) und Uwe Streibel (Piano) umgesetzt hat. „Aus der Welt“ ist eine Ermutigung. Liederdichter wie Frank Viehweg korrepetieren nicht beifallheischend die Zoten des Zeitgeistes, die Obszönität der Oligarchien, die Hybris der Hasardeure. Was sie zu singen haben, willkommen oder nicht, singen sie in die Welt.
Henry-Martin Klemt, Frankfurt im Sommer 2013